Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten vier Jahren deutlich verschlechtert. Nach den rigiden Coronamaßnahmen sind Heranwachsende durch den anhaltenden medialen Alarmismus und den digitalen Stress durch die Omnipräsenz sozialer Medien belastet. Kinder von Anfang an dabei zu unterstützen, Gefühle auszudrücken und Medienkompetenz zu entwickeln, hilft, sich in einer unsicheren Welt zurechtzufinden.
Ein Bericht von Alexandra Wimmer
Um sich seelisch gesund zu entwickeln, brauchen Kinder in allen Entwicklungsphasen – vom dritten bis zum 18. Lebensjahr – ein soziales Umfeld außerhalb ihrer Familien: Schulen, Sportvereine, Ferienbetreuung. „Jugendliche haben in der Coronazeit vor allem die wichtigen sozialen Kontakte vermisst. Aktuell zeigen sich sehr viel Unsicherheit, sehr viele Ängste bei Heranwachsenden“, erklärt Mag. Dr. Daniela Renn, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin sowie Leiterin des Berufsverbands Österreichischer Psychologen (BÖP) in Tirol. Und wie geht es Kindern, die 2020 zwischen drei und sechs Jahre alt waren? „Vorschulkinder, deren Eltern aufgeschlossen für Unternehmungen und Kontakte waren, konnten sich altersgemäß entwickeln“, sagt Renn. „Bei Kindern verängstigter Eltern zeigen sich jetzt Schwierigkeiten, weil es kaum Lernen auf sozialer Weise außerhalb der engsten Bezugspersonen gegeben hat.“
Ein US-amerikanisches Forscherteam um die Psychologin Patricia K. Kuhl stellte sogar messbare Veränderungen der Anatomie des kindlichen Gehirns infolge der Coronamaßnahmen fest. Man verglich anhand von MRT-Aufnahmen die Gehirnstrukturen von 160 Kindern und Jugendlichen vor und nach den Lockdowns. Das Ergebnis: Die Gehirnrinde hatte in diesen Jahren schneller an Dicke verloren, als es bei einer üblichen Entwicklung in diesem Alter zu erwarten gewesen wäre – bei Mädchen waren die Effekte nochmals größer als bei Buben. Die rasche Ausdünnung sei mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung neuropsychiatrischer und verhaltensbezogener Störungen verbunden, warnt das Forscherteam.
Mental Health Pandemie bei Heranwachsenden
„Wir haben es derzeit mit einer Mental Health Pandemie bei Kindern und Jugendlichen zu tun“, unterstreicht der Arzt, Psychologe und Psychotherapeut sowie Psychoneuroimmunologe Prof. DDr. Christian Schubert und verweist auf den aktuellen DAK-Gesundheitsreport. „Wenn man massive psychische Stressoren wie Schulschließungen, Lockdowns, Angst- und Panikmache setzt, wirkt das im psychischen und sozialen Bereich lange nach.“ Die psychologische Immunologie Heranwachsender befindet sich, genauso wie das biologische Immunsystem, in Entwicklung und ist deshalb besonders verletzlich. „Das biologische Immunsystem kann nur funktionieren, wenn sich auch das psychische Immunsystem gut entwickeln kann – durch gute Bindung, gute soziale Einbettung, das Gefühl von Sicherheit. In diesen vulnerablen ersten Lebensjahren wurden viele Schäden angerichtet”, unterstreicht Schubert.
Bei Kindern und Jugendlichen verzeichnet man einen massiven Anstieg von Angststörungen, Essstörungen oder Depressionen. „Aus der Psychoneuroimmunologie wissen wir, dass diese schweren psychischen Erkrankungen immer mit Immunveränderungen einhergehen, sodass langfristig körperliche Krankheiten entstehen können.“ Die größte europäische Kinder- und Jugendgesundheitsstudie, die HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children) der WHO, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Mädchen sind generell psychisch deutlich stärker belastet als Buben. Gereiztheit und schlechte Laune, Schwierigkeiten beim Einschlafen, Nervosität, Zukunftssorgen und Niedergeschlagenheit werden am häufigsten genannt.
Leben in einer unsicheren Welt
Die Traumatisierungen gehen nach der Coronakrise weiter, die Medien spielen dabei eine zentrale Rolle. „Ob es um Kriege oder das omnipräsente Thema der Klimakrise geht: Ängste, die die kindliche und jugendliche Seele belasten, werden an allen Ecken geschürt“, erklärt der Arzt. „Diese Ungewissheit – nicht zu wissen, was auf einen zukommt oder was man kontrollieren kann – ist die neue Realität für unsere Kinder“, ergänzt Renn. Kinder müssten diesbezüglich geschult und unterstützt werden: Es gilt, die eigenen Gefühle zu erkennen und zu benennen und den Umgang mit Wut, Unsicherheit und Hilflosigkeit zu meistern.
„Indem man einem Kind, das zum Beispiel schreit und für uns Erwachsene offensichtlich wütend ist, den eigenen Eindruck zur Verfügung stellt: Ich glaube, du könntest wütend sein. So lernen Kinder, welches Gefühl sie eventuell gerade beschäftigt“, gibt die Psychologin ein Beispiel. „Wenn wir etwas benennen können, wenn ein Gefühl ein Wort bekommt, ist es externalisiert und wird leichter.“ Eltern sind im Umgang mit Gefühlen wichtige Vorbilder. „Man sollte sich deshalb in Diagnostik, Beratung und Therapie nicht nur auf die Kinder fokussieren, auch die Erwachsenenbildung gilt es zu forcieren“, betont Renn. Es gebe übrigens auch positive Aspekte der Krisenzeit: „Prinzipiell ist es inzwischen sozial viel akzeptierter zu äußern, wenn es einem psychisch nicht gut geht.“
Vorgefertigte Inhalte verhindern Vielfalt
„Die vermutlich mächtigsten Einflussfaktoren auf unsere Gesundheit sind die Medien, die Informationen, die wir bekommen. Diese sind nicht darauf ausgerichtet, Rücksicht zu nehmen“, sagt Schubert. Laut HBSC-Studie zeigen zehn Prozent der Mädchen und sieben Prozent der Buben eine problematische Nutzung von sozialen Medien. „Die sozialen Medien, die Digitalisierung von Kindern und Jugendlichen fördern leider regelrecht das Verblöden“, betont der Arzt. „Texte werden nur mehr quergelesen. Man setzt sich mit Büchern nicht mehr auseinander, mit Analysen von Texten, mit Differenzierung und Diversifizierung.“
Psychologin Renn ergänzt: „Es scheinen Zeit, Kraft und/oder Wille, sich mit Inhalten eingehend zu befassen, zu fehlen. Es ist auch viel einfacher, schwarz-weiß zu denken als sich mit Grauschattierungen auseinanderzusetzen.“ Lange Onlinezeiten und vorwiegend digitale Kommunikation beeinträchtigen nicht nur die mentale Gesundheit (z.B. Konzentration, kognitive Leistungsfähigkeit), auch die soziale Kompetenz wird erheblich eingeschränkt. Speziell bei Kindern unter vier Jahren kann der Online-Medienkonsum zu schweren Entwicklungsverzögerungen und Sprachproblemen führen.

“Je jünger Kinder sind, umso eher werden die gezeigten Inhalte als Realität genommen.” Dr. Daniela Renn
„Wir können nicht lernen, kritisch zu denken, wenn wir zu wenig Schulbildung und ständig vorgefertigte Informationen bekommen“, erklärt die Psychologin. „Vielfalt und Kritikfähigkeit können nicht entstehen, wenn man sich täglich stundenlang etwa TikTok-Content hineinzieht. Je jünger Kinder sind, umso eher werden die gezeigten Inhalte als Realität genommen.“ Wenn ein Großteil einer Generation nicht mehr komplex denken kann, sei das hochgefährlich, warnen Renn und Schubert unisono. „Einseitige Informationen und Framing werden noch erfolgreicher sein, wenn kein Bewusstsein für Falschinformationen existiert“, ist der Arzt überzeugt.
Transgeschlechtlichkeit als verunsichernder “Trend”?
Der Einfluss der Medien trägt womöglich auch zur zunehmenden Verunsicherung Heranwachsender bei, was die eigene Geschlechtsidentität angeht. „Das Thema Geschlechtsdysphorie ist in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit präsent und hat sehr an Fahrt aufgenommen. Wir beobachten das in unseren Ordinationen und den spezialisierten Einheiten, in Kliniken, Krankenhäusern, dass der Zustrom enorm geworden ist“, führt Renn aus. An Österreichs Schulen wird heutzutage für Kinder ab Zehn zwischen sechs Geschlechtern unterschieden. „Die meisten Jugendlichen sind damit komplett überfordert“, beobachtet die Expertin. „Zwei von 20 Kindern mit allgemeinen psychischen Herausforderungen in meiner Ordination berichten, sie seien non-binär, nicht-zugehörig, trans oder inter.“
Während das Anderssein und die Transition – also der Übergang von einem Geschlecht in ein anderes – medial viel positive Aufmerksamkeit erfährt, geht ein anderes Thema unter: Die Frage der Detransition. Informationen und Berichte über Menschen, die diesen Schritt bereuen, müssen stärker in den Fokus gerückt werden,“ fordert die Psychologin. „In der Folge gilt es Wege zu eröffnen, sodass eine Transition rückgängig gemacht werden kann. Nach Operationen ist das offensichtlich nicht mehr möglich, auch hormonelle Veränderungen sind nicht oder nur zum Teil reversibel.“
Problematisch sei weiters, wenn es im jugendlichen Alter zu schnell zu einer sozialen Transition – also der Prozess der geschlechtlichen Anerkennung im Alltagshandeln – kommt, sodass die Betreffenden sich nicht mehr trauen, den Schritt rückgängig zu machen. Besonders wichtig sei dabei die individuelle Begleitung. „Die klinisch-psychologische Diagnostik von Geschlechtsdysphorie ist komplex und erfordert Zeit“, unterstreicht Renn. „Zeit, die wichtig ist, sich zu nehmen, um eine differenzierte und einfühlsame Diagnose zu ermöglichen. Sie soll die individuellen Bedürfnisse und Herausforderungen dieser jungen Menschen in den Mittelpunkt stellen, um eine bestmögliche Unterstützung und Betreuung zu gewährleisten.“
Frühzeitige Aufklärung als Schutz
Um die Autonomie der Heranwachsenden zu stärken, braucht es außerdem kindgerechte Informationen und Aufklärung. „Man kann nicht früh genug mit sexueller Aufklärung – ganz klar immer altersadäquat – anfangen“, betont die Psychologin. „Es gibt wunderbar aufbereitete Bücher. Aber auch andere.“ Eltern sollten sich die Bücher deshalb vorher genau ansehen, um mögliche Ideologien auszuschließen. Kindgerechte Aufklärung sei zudem eine Maßnahme, um Missbrauch vorzubeugen.
„Erst, wenn ein Kind weiß, wo die eigenen Grenzen sind, kann es diese jemand anderem gegenüber ausdrücken“, sagt Renn. Viele Kinder, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, wussten, dass etwas nicht stimmt, wussten aber nicht, was. „Sie hatten keine Worte dafür.“ In Punkto Geschlechtsidentität reiche es aus, Kindern im jungen Volksschulalter zu erklären: Es gibt nicht nur Mädchen oder Buben, es gibt auch Mädchen, die als Mädchen geboren sind und ein Junge sein möchten und auch sind. Und umgekehrt.
Medienkompetenz entwickeln
Und wie können Eltern ihre Kinder angesichts tendenziöser, alarmistischer Berichterstattung stärken? „Das Wichtigste, was Eltern tun können, ist, Kinder, so gut es geht, vom eigenen und zu langen Handygebrauch fernzuhalten“, empfiehlt die Psychologin. Zwar sollten Kinder sich mit Handy und Computer auskennen, aber der eigene (unbeschränkte) Zugang sollte aktuellen Studien zufolge möglichst nicht vor dem 13. Lebensjahr erfolgen. Andernfalls droht die Gefahr, dass Heranwachsende dauerberieselt werden und dabei nicht die notwendige mentale Vielfalt erfahren.

„Vielfalt erhalten wir unter anderem, wenn wir selbst denken und, wenn, uns auch mal langweilig sein darf. Wenn wir einfach über Gott und die Welt nachdenken. Dadurch kann Neues, kann Vielfalt entstehen“, betont Renn. Kinder sollten lernen, mit Medien bewusst umzugehen, es brauche Reflexion und kritisches Denken, ergänzt Schubert. „Tendenziöse Inhalte kann man nur abstellen oder kritischer, offener mit diesen Informationen umgehen.“
Univ. Prof. Dr. Dr. Christian Schubert, seit 25 Jahren erforscht und analysiert er gemeinsam mit Kollegen die Wechselwirkungen zwischen Psyche, Gehirn und Immunsystem. Kurz: Der Psychoneuroimmunologie


Mag. Dr. Daniela Renn Klinische Psychologin Gesundheitspsychologin