„Immerwährend“ hätte Österreichs Neutralität sein sollen. Wer aber dachte, das würde „ewig“ bedeuten, hat sich getäuscht. In Zukunft wird Österreich in die NATO-Luftabwehr eingegliedert und wird Raketen des Militärbündnisses auf eigenem Boden stationieren. Das ist nicht nur eine aggressive Aufrüstung gegen den Feind im Osten, sondern auch gegen die nationale Identität.
Alles andere als selbstverständlich ist es, dass sich Österreich nach seiner Befreiung 1945 zu einer gefestigten Nation entwickelt hat. Weder die Alliierten noch sehr viele Einheimische glaubten an die neue Zweite Republik. Aber fast schon glückliche Zufälle führten zu einer überraschend positiven Entwicklung. Wesentlich war die immerwährende Neutralität, zu der sich Österreich 1955 aus freien Stücken entschieden hatte und womit das Land seine Unabhängigkeit zurückbekam.
Über die Jahrzehnte wurde die Neutralität zu einem entscheidenden Merkmal der österreichischen Identität. Spätestens nach den 1970ern und einer erfolgreichen aktiven Friedenspolitik war der Österreicher richtig stolz auf seine Bündnisfreiheit geworden. Das ist immer noch so. Umfragen zeigen eine überwältigende Mehrheit für die Beibehaltung des neutralen Status, was zugleich eine ablehnende Haltung gegenüber einem NATO-Beitritt bedeutet. Doch wie so vieles in der heutigen Welt ist auch die Neutralität nur noch eine Fassade oder noch schlimmer: ein Betrug.
Während die Politik der Bevölkerung noch immer vorgaukelt, man würde die heilige Neutralität auf keinen Fall antasten, sieht die Realität ganz anders aus. Es begann mit dem EU-Beitritt 1994. Dieser geschah nicht grundlos erst nach dem Ende der Sowjetunion. Warum ist schnell erklärt: Die EU als deutsch-hegemoniales Projekt wäre von Moskau als zumindest ökonomischer Anschluss an Deutschland verstanden worden.
Im Staatsvertrag von 1955 hat sich Österreich verpflichtet, keine wie immer geartete politische oder wirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland ein[zu]gehen. Mit diesem Paragrafen hatte die UdSSR auch Österreichs Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beeinsprucht. 1994 war der Einspruch hinfällig, die UdSSR gab es nicht mehr, ihr Rechtsnachfolger, die Russische Föderation, war ein am Boden liegender Staat.
Knapp 20 Jahre später ist von der Neutralität nur noch ein kleiner prähistorischer Hauch übrig – wenn überhaupt. Im Juli gab das Verteidigungsministerium nun bekannt, der NATO-Initiative Sky Shield beizutreten. Es ist nur ein weiterer Schritt zur Eliminierung der Neutralität, aber ein besonders prägnanter. 2022 unterzeichnete Verteidigungsministerin Klaudia Tanner bereits einen Vertrag mit der US-Nationalgarde. Österreich ist seitdem nicht nur mit der NATO über das „Partnership for Peace“-Programm verbündet, sondern auch direkt mit den USA über das sogenannte „State Partnership Program“.
Der konsequente nächste Schritt ist der Beitritt zu Sky Shield. Bereits 2022 war eine entsprechende Absicht angekündigt worden. Dann ging es sehr schnell: Mitten ins Sommerloch hinein, erklärte die Politik Österreichs Beitritt. Wenige Tage später wurde eine Erklärung unterzeichnet, Parlament und Öffentlichkeit wurden vor fertige Tatsachen gestellt, genauere Informationen gibt es keine.
Angeführt wird das EU-Aufrüstungsprojekt von Deutschland. Österreich hat sich damit in eine Militär-Infrastruktur begeben, die von Deutschland geleitet wird. Man könnte meinen, das wäre ein gar nicht so kleines – und angesichts der Geschichte – ziemlich brisantes Detail. Bei der Gründung von Sky Shield hieß es, damit „die integrierte Luft- und Raketenabwehr der NATO stärken“ zu wollen: ein explizites NATO-Projekt.
Welche Raketensysteme auf österreichischem Boden stationiert werden, ist deshalb ebenfalls nicht entschieden. Zu erwarten ist, dass bei US-amerikanisch/israelischer Rüstungsindustrie eingekauft wird. Deshalb will etwa Frankreich nicht mitmachen. Paris würde gerne die eigene Militärtechnik an die EU-Staaten verkaufen.
Die Luftabwehr sei aber, so meint die Regierung, ganz notwendig. Aufrüstung sei das Gebot der Stunde und Österreich aktuell völlig „schutzlos“ gegenüber russischen Raketen oder iranischen Drohnen. Die Tatsache, dass sich Österreich durch die Beteiligung am NATO-Raketenschirm und der Stationierung der Raketen auf eigenem Boden erst zu einem möglichen (und legitimen) Angriffsziel macht, wird souverän verschwiegen. Ganz abgesehen davon, dass eine russische Rakete erst viele Kilometer NATO-Luftraum überqueren müsste, um Österreich zu erreichen.
Hinter dieser (Un)-Logik steckt aber noch mehr: Sky Shield soll vor allem die Luftabwehr am Baltikum und in Osteuropa stärken. Nicht ausgeschlossen, dass sich Österreich durch Sky Shield an der Aufrüstung von NATO-Osteuropa finanziell beteiligt. Das ist keinesfalls harmlos: NATO-Raketenabwehrsysteme sind ein zentraler Teil im Konflikt mit Russland. Moskau sieht die Installation solcher Systeme als Missachtung der eigenen Sicherheitsinteressen. Solche Systeme sind nicht nur „Defensivwaffen“, sondern machen auch einen atomaren Erstschlag (zumindest theoretisch) möglicher.
Schon vor Sky Shield protestierte Moskau jahrelang gegen diese Aufrüstung im Baltikum oder in Polen. Jetzt beteiligt sich Österreich direkt an dieser westlichen Politik. Schwer vorstellbar, wie man sich noch aggressiver in die westliche Militärallianz eingliedern könnte.
Kein Wunder also, dass Österreich von Moskau schon lange nicht mehr als neutral angesehen wird. Auch wenn die immerwährende Neutralität kein Teil des Staatsvertrages ist, kann einem dabei mulmig werden. Letztlich war sie der Hauptgrund, warum Österreich trotz der eindeutigen Kriegsschuld ein Schicksal wie Deutschland erspart geblieben ist. Aus der BRD sind die USA nie abgezogen – von einer (relativen) Souveränität kann Deutschland nur träumen. Möglich machte das für Österreich damals vor allem Moskau und nicht Washington.
SPÖ und ÖVP haben sich die meiste Zeit über an der Neutralität gestört. Sozial- und Christdemokraten machten nie einen großen Hehl aus ihrer Zuneigung zu Washington. So war es auch nicht der wodkafeste Leopold Figl, sondern die dritte Gründungspartei der Republik, die KPÖ, die entscheidend für die Neutralität Österreichs geworben und damit die österreichische Nation prägend aus der Taufe gehoben hat.
US-amerikanische Raketensysteme auf österreichischem Boden werden als militärische Grabsteine auf das einstig neutrale Österreich hinweisen. Eine angebliche „Neutralitätsklausel“, die man ebenfalls unterzeichnet hat, um die Kritik zu entkräften, macht dabei wenig Unterschied. Mit Sky Shield wird die politische Strategie weiterverfolgt, die Österreichs politische Klasse seit den 90er-Jahren betreibt. Man könne das „Herz der Österreicher“, die Neutralität, nicht einfach ausreißen, sondern müsse es „langsam und vorsichtig mit dem Löffel raus operieren“. So soll es der damalige Innenminister Günther Platter in den 2000er Jahren beschrieben haben. Von diesem Schlachtplan ist man seither keinen Millimeter abgerückt.
Das sei aber alles nicht so dramatisch, erklären Experten und Journalisten. Im postfaktischen Zeitalter bedeutet „immerwährend“ keinesfalls „ewig“. Und NATO-Raketen lassen sich sogar mit der Neutralität vereinbaren. Es geht alles.
Dieser Beitrag ist zuerst in der aktuellen Printausgabe Nr. 7 des Stichpunkt-Magazins erschienen.
Über den Autor
Thomas Oysmüller, Jahrgang 1990, studierte Philosophie und Sozialwissenschaften, ist freier Journalist und arbeitete früher beim deutschen Onlineradio detektor.fm, einige Jahre bei zackzack.at sowie für kleinere Zeitungen.
Als deutscher Ex-Berufsoffizier wundere ich mich stets, daß die Menschen in “felix Austria” sich nicht erinnern wollen, daß ihre Alpenrepublik einen Staatsvertrag (?) mit der NATO geschlossen hat? umso verwundert es mich, daß Leserbriefschreiber aus Österreich sich über Sichtung US oder andere Militärfahrzeug au österreichischen Autobahn wunderten!