Seit den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 scheint speziell in Deutschland der Antisemitismus einen Höhenflug zu erleben. Mit breiter Brust positionieren sich Politiker und Prominente gegen diesen vermeintlichen Antisemitismus. Das ist oft, aber längst nicht immer gut gemeint.
Wenn man über Antisemitismus spricht, muss man zunächst eine wichtige Differenzierung vornehmen. Ist damit die deutsche Judenfeindlichkeit gemeint? Geht es um palästinensischen Judenhass? Sprechen wir von faschistischen Holocaust-Leugnern oder von Juden, die als „Self-hating-Jews“ bezeichnet werden, also Juden, die sich bewusst und radikal von der selbst empfundenen Geiselhaft des israelischen Staates befreien wollen?
Es ist nicht so einfach, Antisemitismus klar einzuordnen, weil er zu facettenreich ist. Umso schwieriger gestaltet sich die Debatte seit den Angriffen auf Israel. Wenngleich es weltweit und auch in Deutschland Judenfeindlichkeit gibt, ist es simplifizierend und politischen Zielen geschuldet, dass es derzeit scheinbar eine wahre Welle des Judenhasses gibt. Dieser Artikel widmet sich insbesondere dem deutschen Antisemitismus oder besser: dem, was als solcher bezeichnet wird.
Kein Ereignis ohne Vorgeschichte
Als im Jahr 1948 Israel gegründet wurde, stellten die Araber ein Problem dar. Sie mussten Platz machen für den neuen israelischen Staat. Doch wenig bekannt ist, dass die zionistische Bewegung schon vor dem Ende des Nationalsozialismus auf Ländergewinne aus war. Bereits 1938 schrieb Ben Gurion an seinen Sohn in einem Brief, dass eine Teilung in jüdisches und palästinensisches Land nicht angestrebt war:
“Ich gehe davon aus (…), dass ein jüdischer Staat nur auf einem Teil des Landes nicht das Ende, sondern der Anfang ist. (…) Die Errichtung eines Staates, wenn auch nur auf einem Teil des Landes, ist die maximale Stärkung unserer gegenwärtigen Kraft und ein mächtiger Impuls für unsere historischen Bemühungen um die Befreiung des gesamten Landes.” (Übersetzung: DeepL)
In Anbetracht dieser Zeilen ist die von Israel ausgehende Expansionsabsicht nur folgerichtig. Das macht sie aber nicht besser. Man muss Gurions Worte so verstehen, dass es schon vor der Gründung des Staates Israel vorgesehen war, ein Land aufzubauen, in dem Araber keine Rolle spielen sollten.
Die Erwähnung des Briefes Gurions an seinen Sohn verfolgt im Wesentlichen einen Zweck: Sie soll einer historischen Bewertung des Israel-Palästina-Konflikts den Weg freimachen, jedoch ohne dies hier in angemessener Weise ausbreiten zu können. Vielmehr soll ein Verständnis dafür aufgebaut werden, dass man Ereignisse nicht ohne den historischen Kontext bewerten kann. Es gibt umfangreiche Literatur über den Kampf zwischen Israel und Palästina, und die Leser mögen sich ermuntert fühlen, sich mit dieser in der gebotenen Ruhe zu beschäftigen.
Nach dem Ukraine-Konflikt wird einem gesinnungsethischen Denken folgend einmal mehr die Entwicklung, die zu den schrecklichen Taten geführt hat, die wir seit Anfang Oktober auf beiden Seiten von Gaza sehen, ignoriert. Wer versucht, hier größere Zusammenhänge ins Gespräch zu bringen, erfährt meist folgenden Konter: „Die Hamas hat Israel brutal angegriffen und Zivilisten auf grausame Art und Weise getötet. Soll Israel das etwa einfach so hinnehmen?“
Schon die häufig (insbesondere von Annalena Baerbock) gebrauchten Worte „brutal“ und „grausam“ machen deutlich, dass hier das Sinnen auf Rache im Vordergrund zu stehen scheint. Selbstverständlich waren das grausame und brutale Taten der Hamas, wer will etwas anderes behaupten (dazu weiter unten mehr)? Doch wer den Eindruck erwecken will, dass die Reaktionen Israels nicht weniger grauenvoll sind, der hat bereits eine pragmatische Perspektive verlassen. Doch die Emotionen in Israel und Palästina sind seit den Morden an Israelis am 7. Oktober nahezu völlig außer Kontrolle geraten, und in einem solchen Fall ist es nicht hilfreich, in diesen Kontrollverlust der Gefühle einzustimmen.
Annalena Baerbock, Deutschlands Außenministerin ohne jegliches diplomatisches Gefühl, sagte Anfang November in einem Fernseh-Interview: „Solange die Hamas nicht vernichtet ist, wird es im Nahen Osten keinen Frieden geben.“ Sie reiht sich damit ein bei den Falken, die einzig die militärische Eskalation als Lösung anerkennen. Das ist aus zwei Gründen falsch:
- Eine militärische Eskalation insbesondere in diesem speziellen Konflikt wird katastrophale Auswirkungen haben. Wir sprechen hier von ca. 2 Milliarden Muslimen, die auf Dauer nicht bereit sein werden, ihre zu beklagenden Opfer widerstandslos zu akzeptieren. Mehr oder weniger im Stillen wird sich eine Entwicklung vollziehen, die nur in Gewalt münden kann. Gewalt in einem Ausmaß, das wir uns nicht vorstellen können.
- Die Vernichtung der Hamas, wie Baerbock sie favorisiert, ist der Beleg für eine Politikerin, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen ist. Es grenzt schon fast an Infantilität, davon auszugehen, dass man die Hamas vernichten kann. Zum einen stellt sich die Frage, wer genau denn dazugehört und wer nicht. Zum anderen kann man sich an einer Hand abzählen, dass durch eine Vernichtung der Hamas (was ja nur massenhafte Tötung bedeuten kann) der Widerstand keinesfalls gebrochen werden kann. Das Gegenteil wäre der Fall, es entstünden neue Gruppen, die vermutlich mit jedem Tag an Radikalität hinzugewinnen würden.
Damoklesschwert Antisemitismus
Keine Frage, Deutschland hat aufgrund seiner Geschichte gegenüber Juden eine besondere Verantwortung, die es erfüllen muss. Gerade im eigenen Land kann Antisemitismus daher nicht geduldet werden, der Kampf gegen Judenfeindlichkeit steht also zu Recht ganz oben auf der Prioritätenliste.
Doch seit den Angriffen der Hamas auf Israel wird Antisemitismus mit politischem Kalkül geradezu instrumentalisiert, um eine die gesamte Gesellschaft schädigende Praxis durchzusetzen. Von Mosche Dajan, von 1953 bis 1958 Generalstabschef der israelischen Verteidigungsstreitkräfte, stammen folgende Worte:
“Wir kamen hierher in ein Land, das von Arabern bevölkert war, und wir bauen hier einen hebräischen, einen jüdischen Staat auf; anstelle der arabischen Dörfer wurden jüdische Dörfer errichtet. Sie kennen nicht einmal die Namen dieser Dörfer, und ich mache Ihnen keinen Vorwurf, denn diese Dörfer gibt es nicht mehr. Es gibt keine einzige jüdische Siedlung, die nicht an der Stelle eines ehemaligen arabischen Dorfes errichtet wurde.” (Übersetzung: DeepL)
Muss man Mosche Dajan nun als Antisemit bezeichnen? Das fällt aufgrund seiner Herkunft und der damaligen Funktion innerhalb Israels schwer. Vielmehr spricht er hier ein Thema an, das eines der Kernprobleme des Israel-Palästina-Konflikts darstellt. Wenn man die Hamas-Angriffe bewertet, kann man, sofern man das seriös machen will, dieses Problem nicht ignorieren.
Wäre die Beschreibung des Konflikts nicht von Dajan, sondern etwa von einem deutschen Journalisten formuliert worden, wäre der Antisemitismusvorwurf unverzüglich aus allen Himmelsrichtungen gekommen. Das ist fatal, denn es erschwert bis verunmöglicht eine Debatte über mögliche Lösungen. Sobald jede Kritik an der israelischen Politik als Judenhass verunglimpft wird, ist das Ende an konstruktiven Optionen erreicht, bevor sie auch nur gedacht werden können. Die Folge ist das, was Baerbock bevorzugt: die militärische Eskalation.
Deutschland ist in diesem Konflikt eine dritte Partei, daran ändert auch die einst von Angela Merkel formulierte Staatsräson nichts. Wenn aber zwei Parteien einen Konflikt haben oder Krieg gegeneinander führen, kann es nicht die Aufgabe einer oder mehrerer dritter Parteien sein, aktiv und eskalierend darin einzugreifen. Das gilt grundsätzlich, aber eben auch für Israel.
Antisemitismus als Diskurszerstörer
Die in Deutschland entfachten Diskussionen um Antisemitismus haben nach dem 7. Oktober, dem Tag der Angriffe der Hamas auf Israel, eine neue Dimension bekommen. Ehrlicherweise muss man festhalten, dass derlei Gewichtung dieses Themas zuvor nicht erkennbar war. Fraglos gibt es in Deutschland Judenfeindlichkeit, was in Anbetracht der deutschen Geschichte nur ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen kann.
Doch die Qualität ist neu. Und das hat einen einleuchtenden Grund. Der Meinungskorridor in Deutschland ist zu einem schmalen Grat verkommen, auf dem man sich schon blutige Füße holt, wenn man sich auch nur ein wenig kritisch an den aktuell vorherrschenden Narrativen beteiligt. Wir erinnern uns an Corona, an den Ukraine-Konflikt, an den Klimawandel. Ob man nun „der“ Wissenschaft folgt oder den offiziellen Erzählungen, ausschlaggebend ist, dass man es unkritisch tut, sonst ist man schnell ein „Schwurbler“, „Verschwörungstheoretiker“ oder eben ein „Antisemit“.
Und so kann es nicht überraschen, dass in unterschiedlichen Medien bereits die in der Coronazeit widerständigen Menschen inzwischen direkt mit Judenhass in Verbindung gebracht werden. Das ist zwar absurd, wird aber gemacht, denn abweichende Meinungen werden inzwischen alle in einen gemeinsamen „Sack gestopft“, die systemische Feindseligkeit kennt keine Grautöne, Abstufungen oder Differenzierungen mehr.
Dabei entsteht eine Gemengelage, in der man sich nicht mehr frei bewegen kann, folgt man nicht der allgemeinen anerkannten Erzählung. Die Bundesregierung predigt die Staatsräson gegenüber Israel als unverrückbare Verpflichtung und kann damit jede israelische Reaktion auf die Hamas-Angriffe rechtfertigen. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses haben im Gazastreifen mehr als 10.000 Menschen ihr Leben verloren, ein großer Teil von ihnen sind Frauen und Kinder. Wer dies als Verbrechen, nicht als Recht auf Selbstverteidigung bezeichnet, ist ganz schnell als Antisemit gebrandmarkt. Es ist offenkundig, dass hier unverhältnismäßiges Verhalten auf Seiten Israels durch die „Antisemitismus-Keule“ nicht nur gerechtfertigt, sondern aktiv unterstützt wird.
Ein weiteres Problem kommt hinzu und erschwert eine unaufgeregte Betrachtung um einen weiteren Faktor: Die Menschen, die gegen die massenhaften Tötungen von Palästinensern in Gaza demonstrieren, werden kollektiv als Judenfeinde eingeordnet. Das ist absurd, schon deswegen, weil eine solche pauschale Zuschreibung nie funktionieren kann. Aber auch, weil nicht wenige Palästinenser jüdische Freunde oder Kollegen haben, mit denen ein gutes Verhältnis besteht. Man begegnet sich ja aufgrund der Umstände immer wieder, und anzunehmen, dass dabei ausnahmslos Hass und Abneigung entstehen, ergibt schlicht keinen Sinn.
Dennoch: In der arabischen Welt ist das Verhältnis zu Juden ein anderes als in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Zwar trifft man auch in den genannten westlichen Ländern Antisemitismus an, doch die historischen Hintergründe sind andere. Mit der Errichtung des Staates Israel 1948 war eine massive Vertreibung der heutigen Palästinenser verbunden, die nicht folgenlos bleiben konnte. Es wäre naiv zu glauben, dass dieser Vertreibung – zumal kombiniert mit der heutigen Siedlungspolitik und der faktischen Abriegelung des Gazastreifens – eine wohlwollende Reaktion erfolgt. Diese ufert fraglos auch in pauschalem Antisemitismus aus, der von radikalisierten Menschen gelebt wird, die nicht zwischen politischen Entscheidungen und einer generellen Judenfeindlichkeit unterscheiden.
Doch es ist wohlfeil, diese pauschale Einstellung ebenso pauschal zu verurteilen, denn von 1948 bis heute gab es genug Zeit, um beispielsweise eine funktionierende Zwei-Staaten-Lösung zu erarbeiten. Doch Versuche in dieser Richtung wurden nicht zuletzt auch von Israel immer wieder torpediert und kategorisch abgelehnt. Im Gegenteil, die Siedlungs- und Abschottungspolitik Israels kann nur als Praxis der langsamen, aber stetigen Eskalation bezeichnet werden.
An diesem Punkt ist das Ignorieren der Geschichte, wie wir es gerade einmal wieder in Deutschland erleben, fatal. Als Ausgangspunkt für Israels militärisches Vorgehen wird der 7. Oktober 2023 angegeben, Israel hatte also dementsprechend das Recht, zu reagieren, wie es reagiert hat. Doch selbst wenn das stimmen würde, wird das Völkerrecht hier mit Füßen getreten, weil die Aktionen Israels schlicht nicht verhältnismäßig und letztlich auch nicht zielführend im Sinne eines Endes des Konfliktes sind. Deutschland verschließt an diesem Punkt die Augen und argumentiert mit Staatsräson und Israels Verteidigungsrecht.
Fazit
Der Umgang mit Antisemitismus in Deutschland ist geprägt von politischem Desinteresse und mangelnden Bildungsangeboten. Auf den Tisch kommt er in erster Linie, wenn es Ereignisse gibt, mit denen er sich instrumentalisieren lässt. Das ist derzeit in gravierendem Maß der Fall. Gleichzeitig wird – wie oben beschrieben – der Meinungskorridor immer enger, was zu oberflächlichen und undurchdachten Mechanismen führt. Die Tatsache, dass man die israelische Politik faktisch nicht mehr kritisieren darf, ohne als Antisemit „überführt“ zu werden, ist Ausdruck dieser verengten Debattenkultur. Es gibt ein regelrechtes „Differenzierungsverbot“ bei allen politischen und gesellschaftlichen Themen, das zu unzureichenden und oft unfairen Urteilen führt.
Die Lösung kann nur die Öffnung des Debattenraums sein, gepaart mit einer priorisierten Gewichtung auf Bildung. In nahezu allen Konflikten, die wir in der jüngeren Zeit erleben, ist das Ausblenden von historischen Zusammenhängen zur gängigen Praxis geworden. Das erleichtert die Einordnung von „Gut“ und „Böse“, räumt komplexen Problemen aber nicht die Bedeutung ein, die notwendig ist, um längere Zeiträume und ihre Ereignisse besser zu verstehen.
Was den sogenannten „importierten Antisemitismus“ angeht, ist das Problem anders, aber doch ähnlich gelagert. Seit dem „Wir-schaffen-das“-Jahr 2015 wurde das Thema konsequent ausgeblendet. Hinzu kommt eine misslungene Integrationspolitik, im „stillen Kämmerlein“ konnte sich also etwas aufbauen, das nun sichtbar wird. Dabei muss man berücksichtigen, dass Muslime in Deutschland die politischen Entscheidungen im Land natürlich verfolgen, so auch die deutsche Enthaltung zur UN-Resolution über eine Waffenruhe. Daraus entsteht ein Gebräu aus Verletzungen, Trauer, Wut und Hass. Auch hier sind es die politischen Versäumnisse der Vergangenheit, die uns nun auf die Füße fallen.
Noch eine grundsätzliche Anmerkung zum Schluss: Wir erleben derzeit eine Neuordnung der Welt, bei der die USA und Russland, China und die BRICS-Staaten eine wichtige Rolle spielen. Es geht um politische Vormachtstellungen, um militärische Überlegungen und um wirtschaftlichen Einfluss. Insbesondere die arabischen Länder lösen sich mehr und mehr aus der westlichen Umklammerung, die vornehmlich die USA betrifft. Ob eine solche Neuordnung konfrontativ oder kooperativ gestaltet wird, ist eine Frage, die inzwischen mit der konfrontativen Herangehensweise beantwortet werden muss. Es ist der wankende Riese USA, der „wild um sich schlägt“ und dabei seine Interessen über die seiner „Partner“ stellt. Das war freilich schon immer so, aber je ernster die Lage und der Machtverlust der USA sind, desto rücksichtsloser erleben wir die Gegenwehr.
Vereinfacht dargestellt erleben wir einen Kampf von Israel gegen 1,9 Milliarden Muslime und einen der USA und deren Verbündete gegen 3,2 Milliarden Menschen, die die BRICS-Staaten ausmachen. Das sollte eigentlich Grund genug für eine kooperative Geopolitik sein. Doch die ist im Moment leider nicht abzusehen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Printausgabe des Magazins Nr. 8
Über den Autor
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen.