Interview mit Dr. Clemens Heni, Antisemitismus-Forscher aus Berlin.
Clemens Heni, geboren 1970, ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Gründer /Leiter des „Berlin International Center for the Study of Antisemitism“. Seine Forschungs-Schwerpunkte sind Antisemitismus nach 1945 und Neue Rechte in Deutschland. 2023 legte er ein fast 700 Seiten starkes Buch vor: „Pandemic Turn. Antisemitismusforschung und Corona.“
Jan David Zimmermann: Lieber Herr Heni, für unsere diesbezüglich nicht ganz so bewanderten Leserinnen und Leser: Wollen Sie uns kurz die wichtigsten Spielarten des Antisemitismus, insbesondere jene nach 1945, erläutern?
Clemens Heni: Es gibt heute im Wesentlichen drei Formen von Antisemitismus. Erstens den ‚traditionellen‘ Antisemitismus, zweitens den sekundären Antisemitismus nach Auschwitz und drittens den antizionistischen Antisemitismus, der sich gegen Israel richtet. Der traditionelle Antisemitismus hat viele Unterformen wie den antijudaistischen Antisemitismus, der das Judentum aus religiösen wie kulturellen Gründen ablehnt (inklusive der Brit Mila, der jüdischen Beschneidung); eine andere Form ist die Beschuldigung, Juden seien am Tod von Jesus Schuld gewesen; im Mittelalter kam die Blutbeschuldigung auf (Juden würden zum Backen ihrer Matzen das Blut von Nicht-Juden, vornehmlich Kindern, benötigen, die seit der Damascus Blood Libel von 18401 auch im arabischen Raum Fuß fasste). Der rassistische Antisemitismus seit Ende des 19. Jahrhunderts sieht in Juden eine eigene und gefährliche „Rasse“ und ist kategorial vom Antijudaismus verschieden und meint, ‚wissenschaftlich‘ zu sein. Antisemitische Verschwörungsmythen wie die Protokolle der Weisen von Zion (1905, russische Fälschung) beschuldigen Juden einer Verschwörung zur Unterminierung der Gesellschaft via Kosmopolitismus, Weltoffenheit, U-Bahnen, Städten, Sexualität etc. Auch typische Muster wie die Beziehung von Handel, Geld, Börse und Juden sind ganz typische ‚traditionelle‘ Formen des Antisemitismus. Nach dem Holocaust sind dann zwei neue Formen des Antisemitismus entstanden. Erstens die Erinnerungsabwehr, die von einem Mitarbeiter des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno, Peter Schönbach, „sekundärer Antisemitismus“ genannt wurde. Damit sind zum Beispiel Aufrechnungen wie der Luftkrieg gegen Dresden und Auschwitz oder generell eine Abwehr der Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus gemeint. Typisches Beispiel wäre hier der Schriftsteller Martin Walser. Das kann man bis heute auch im Alltag an Straßennamen sehen, die nach Nazis und Antisemiten benannt sind und nicht selten weigern sich Oberbürgermeister*innen oder Bürgermeister und Stadtverwaltungen da konsequent oder überhaupt dagegen vorzugehen – im Jahr 2023! Schließlich gibt es die heute wohl bekannteste Form des Antisemitismus, den Antizionismus oder den gegen Israel gerichteten Antisemitismus, der u.a. in der antisemitischen Boykottbewegung BDS eine internationale Plattform hat. Der muslimische Antisemitismus bedient häufig alle Formen des Antisemitismus, aber der Hass auf Israel, gerade auch von islamistischen wie säkularen Israelfeinden in Deutschland bricht sich regelmäßig auf den Straßen oder in den unsozialen Medien Bahn. Wer in Berlin in bestimmten Stadtteilen wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding Hebräisch redet oder eine Kippa trägt, muss damit rechnen, dass fanatisierte antisemitische Araber oder Türken einen angreifen, schlagen oder mit Worten diffamieren.
JDZ: Sie befassen sich nun seit vielen Jahren akademisch mit Antisemitismus. Mit Corona hat nun etwas stattgefunden, das sie in Ihrem gleichnamigen Buch als „Pandemic Turn“ bezeichnen. Können Sie uns diesen Begriff erklären und uns damit gleichzeitig erläutern, was dies mit Antisemitismus zu tun hat?
CH: Pandemic Turn meint das Ausschalten der Demokratie, der Gewaltenteilung und eine bedingungslose Herrschaft der Exekutive. Seit dem ersten sogenannten Lockdown durch Angela Merkel und die damalige Bundesregierung wurde jedes medizinische und juristische Wissen über die Verhältnismäßigkeit über Bord geworden. Ohne jede medizinische Indikation wurde die ganze Gesellschaft stillgestellt. Dass nachweislich der ominöse R-Wert – der „Reproduktionswert“ – zum Zeitpunkt des ersten Lockdown im März 2020 bereits wieder im Fallen war, wurde absichtlich ignoriert. Pandemic Turn meint, dass es nur noch eine Meinung gibt und die kommt von der Bundesregierung, die wiederum nur nachplapperte, was das Robert Koch-Institut (RKI) fabulierte, ohne jede Evidenzanalyse. Pandemic Turn meint das in dieser Form in einer Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland oder Österreich seit 1945 nie dagewesene Diffamieren von Menschen, die einfach eine andere Meinung oder Auffassung hatten. Diese Millionen Menschen wurden teilweise komplett entmenschlicht und als „Blinddarm“ geframt, den man töten kann, andere kokettierten mit der Nazi-Phantasie, die Juden – heute die Nicht-Geimpften – nach Madagaskar zu deportieren, was aber leider nicht gehen würde. Darüber hinaus kann man empirisch zeigen, dass ein sehr großer Teil der Kritiker*innen der Coronapolitik medizinisch, demokratisch und juristisch viel gebildeter ist als nahezu alle solche Kabarettistinnen oder Soziologen, sowie die Mainstreammedien, Presse, Radio und vorneweg das staatliche wie private Fernsehen.
JDZ: Ein sehr interessantes Thema, das Sie in Ihrem Buch ansprechen ist der Protest der israelischen Bevölkerung gegen die Corona-Maßnahmen. In Österreich wie in Deutschland wurde ja hingegen Israel bzgl. Maßnahmen und Impfungen als Vorzeige-Land hochstilisiert, in Österreich meinte etwa der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Blick auf die epidemiologische Lage, er hätte mit Israels Präsident Netanyahu telefoniert und sich an dessen Vorgehen in der Politik orientiert.2 Nun sagen Sie, dass es in Israel viel mehr Protest gegenüber den Maßnahmen gab, als bei uns kolportiert wurde. Wollen Sie das näher skizzieren?

CH: Es gab viele Demonstrationen in Israel gegen die dortige Coronapolitik. Es gab aber vor allem auch wissenschaftliche Kritik von führenden Forscher*innen in den Bereichen Medizin, Public Health, Mikrobiologie und verwandten Fächern. So gab es in Israel unter der Leitung von Professorin Anat Gesser-Edelsburg eine Studie, die sich kritisch mit der israelischen Coronapolitik beschäftigt. Darin wurden Äußerungen und Texte von Regierungsmitgliedern und von Kritiker*innen sowie über 900 repräsentative Interviews mit ausgewählten Bürger*innen – ca. 300 Araber, 300 ultraorthodoxe Juden und 300 nicht-orthodoxe Juden (m/w/d) – analysiert. Im Ergebnis gab es eine massive Skepsis gegenüber Netanyahu und der gesamten Politik, die ja mit ihren Verträgen mit Pfizer de facto ein ganzes Land und seine medizinischen Daten an eine Firma verkaufte – und die Verträge wurden nicht bekannt, das war der Kritikpunkt. Darüber hinaus gab es viele andere Forscher*innen, die massive Kritik übten an der 2G-Regel, an Maskenpflichten und Lockdowns. Forscher*innen wie Dr. Udi Qimron, Prof. Eitan Friedman, Dr. Ifat Abadi-Korek und andere forderten schon im September 2020, dass Israel das schwedische Modell der realitätsgerechten Coronapolitik übernehmen solle. Andere jüdische Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger und Chemiker Michael Levitt waren Erstunterzeichner der legendären Great Barrington Erklärung von Oktober 2020, die sich für den Schutz der Vulnerablen aussprach, ohne alte Menschen gleichsam wegzusperren, und allen anderen Menschen ein ganz normales Leben wie vor März 2020 ermöglichen sollte. Das wurde alles in Deutschland komplett verschwiegen. Hier herrschte die Diffamierung jeglicher Kritik vor und es ist wirklich sehr traurig, dass der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in einem Beitrag für einen typischen und irgendwie links-liberalen Sammelband zur Apologie der staatlichen Coronapolitik ernsthaft schrieb, dass „der Schutz des Lebens“ im „Judentum“ höchste Priorität genieße. Was sagt er den erwähnten Medizinier*innen und Forscher*innen aus Israel oder den USA, die auch Juden sind? Dass sie sich nicht um den Schutz des Lebens kümmerten? Meint er das ernsthaft? Das glaube ich nicht, aber er wird eben wie fast 100 Prozent der staatstreuen und nicht selbst denkenden Leute in Deutschland oder Österreich die kritischen jüdischen Stimmen aus Israel ganz gekonnt ignoriert haben.
JDZ: Was ich durchaus bemerkenswert an Ihrem Buch finde, ist, dass Sie nicht nur die Corona-Maßnahmen-Befürworter kritisieren, sondern auch die Kritikerseite sowie deren antisemitische bzw. autoritäre Tendenzen. Wie antisemitisch war der Corona-Widerstand Ihrer Meinung nach und warum?
CH: Der große Teil der Nicht-Geimpften und Demonstrant*innen gegen die irrationale und nicht evidenzbasierte Coronapolitik war nicht antisemitisch. Viele der Protagonist*innen jedoch, der YouTuber*innen und Vordenker*innen haben häufig einzelne „Böse“ ausgemacht, die einen perfiden Plan zur Dezimierung der Weltbevölkerung oder zur transhumanistischen Umgestaltung der Gesellschaft im Gepäck hätten. Gelbe Sterne mit „Ungeimpft“ darauf sind eine unerträgliche Holocaustverharmlosung. Israelfahnen auf Demonstrationen gegen die Coronapolitik wie in Kassel im März 2021 hingegen sprechen kaum eine antisemitische Sprache, aber das wurde nirgendwo im Mainstream thematisiert.
JDZ: Eine Sache, die mir in diesem Zusammenhang bei Ihrem Buch aufgefallen ist und worüber ich etwas gestolpert bin, ist der Verweis auf die Begriffe „Verschwörungsmythen“, (Vorwort, S. XIV), Verschwörungsmärchen und „Verschwörungstheorien“.
Hierbei beziehen Sie sich z.B. auf sogenannte Verschwörungstheorien rund um 9/11 (S.XiV) oder bezeichnen den Journalisten Mathias Bröckers als „Verschwörungsideologen“ (S.144). Auch sprechen Sie immer wieder von Verschwörungsmythen oder Verschwörungsmärchen, eine genaue Erklärung, was nun genau daran aber verschwörerisch, ergo falsch und Unsinn ist, bleiben Sie dabei schuldig, ebenso wie eine genaue Begriffserklärung und Definition. Auch z.B. Ihr Verweis auf einen deep state (S.25) als Begriff aus der Verschwörungstheorie-Ecke erklären Sie nicht weiter. Auf der anderen Seite kritisieren Sie ja die von Medien und Politik etablierten pauschalen und nicht näher ins Detail gehende Bezeichnungen von Kritikern als „Corona-Leugner“ (z.B. SXXIII).
Nun haben wir während Corona doch gesehen, dass der Begriff „Verschwörungstheorie“ völlig inflationär und letztlich auf jeden angewendet wurde, der nur irgendwie Kritik an den Maßnahmen oder der Impfung äußerte. Auch ansonsten gängige journalistische (oder historisch-politikwissenschaftliche) Praktiken wie der Versuch, Netzwerke, Lobbys, Interessenskonflikte und Einflussnahmen von Eliten und privilegierten Gruppen aufzudecken, sprich: Dinge zu kontextualisieren, wurden schnell ebenso als Verschwörungstheorien diffamiert. Die Begriffe „Verschwörungstheorie“, ebenso wie „Rechtsextremismus“ und streckenweise auch „Antisemitismus“ wurden, so hatte es den Anschein, zu Kampfbegriffen der Herrschenden und ihrer intellektuellen, medialen Zulieferer. Und wirklich inhaltlich besprochen und erklärt wurden diese angeblich „kruden“ „dubiosen“ Theorien von „umstrittenen“ Experten auch nie, ja im Gegenteil: in Form einer antiaufklärerischen Geste signalisierte man den Menschen doch medial, dass sie sich damit erst gar nicht beschäftigen sollen.
Daher möchte ich Ihnen diesbezüglich zwei Fragen stellen:
- Eignet sich der Begriff Verschwörungstheorie überhaupt als wissenschaftliche Analysekategorie?
- Auch wissenschaftliche „Experten“ wie Michael Butter, Oliver Nachtwey, Caroline Amlinger, Julia Ebner und ähnliche Protagonisten verwenden den Begriff „Verschwörungstheorie“ stets als pejorative Fremdzuschreibung. Wie unterscheidet sich daher Ihre Auffassung des Begriffes von der Art und Weise, wie er, salopp gesagt, vom medialen und akademischen Mainstream gegenüber unliebsamen Meinungen verwendet wird?

CH: Verschwörungsmythen haben fast immer einen antisemitischen Kern. Die Protokolle der Weisen von Zion von 1905, die bis heute nicht nur in Neonazi-Kreisen, sondern auch in der arabischen und muslimischen Welt und anderswo rezipiert werden, hatten und haben tödliche Konsequenzen. Die Nazis und Hitler glaubten an diese Verschwörung, wie Dutzende Millionen Deutsche. Wer heute fantasiert, dass der 11. September kein islamistisches Verbrechen gegen den Westen und Amerika wie die Juden war, kann nicht ernstgenommen werden. Das betrifft allerdings sehr sehr viele der Protagonist*innen der Coronapolitik-Kritiker*innen-Szene und Hunderttausende Leser*innen entsprechender Bestseller. Dass ansonsten fast immer faktenfrei von den Apologet*innen der staatlichen Coronapolitik der Vorwurf von Verschwörungsmythen wie ein Mantra vor sich hergetragen wurde, ist völlig evident. In meiner Studie gehe ich auf den irgendwie liberalen und sicher ungemein sympathischeren Gegenspieler von Drosten, Hendrik Streeck aus Bonn ein. Streeck hatte ja empirisch herausragende Forschung in Gangelt betrieben und bereits im April 2020 die Infektionssterblichkeit von SARS-CoV-2 mit 0,37 Prozent erforscht. Das war um den Faktor 10 niedriger als die komplett wahnsinnigen und irrationalen Zahlen der WHO, des RKI und der Tagesschau etc. pp., die alle nur die FALLsterblichkeit angaben, die aber wissenschaftlich komplett irrelevant ist. Es kommt darauf an bei einer Epidemie, wie viele Menschen sich anstecken und wie viele versterben. Und das waren von Anfang an zwischen 0,17 Prozent (so Studien von John P. Ioannidis und Jay Bhattacharya et al. aus den USA ebenfalls von April 2020) und 0,37 Prozent. Was jetzt sehr typisch und bitter war, war die Tatsache, dass Streeck in einem Interview im Jahr 2020 sechs angebliche „Verschwörungstheorien“ aufführte, von denen keine einzige eine Verschwörungstheorie ist! So zum Beispiel die These 5: „Das Coronavirus stammt aus einem Labor in China oder wurde versehentlich freigesetzt“ – das ist mittlerweile auch die Position von Teilen der amerikanischen Regierung und kein seriöser Forscher würde heute noch ausschließen, dass das Virus aus jenem Labor in China versehentlich freigesetzt worden sein könnte. Da wollte Streeck offenbar seinen Kritiker*innen – die teils unfassbar brutal vorgingen, später wurde das am Beispiel des Staatskomikers Jan Böhmermann besonders deutlich – irgendwie entgegen kommen und zeigen, dass auch er die Szene der Coronapolitik-Kritiker*innen höchst dubios findet. Doch von Verschwörungsmythen hat Streeck halt leider gar keine Ahnung. Muss er auch nicht, er ist Virologe und ein sehr guter. Aber dann wäre es besser gewesen, er hätte dieses Interview zu den „Verschwörungstheorien“ nicht gegeben.
JDZ: Antisemitismus ist real und ein ernstzunehmendes Phänomen. Von linker Seite gibt es ihn, ebenso wie von rechter oder rechtsextremer Seite, es gibt christlichen und muslimischen Antisemitismus/Antijudaismus und feministischen Antisemitismus. Antisemitische Tendenzen scheinen weit verbreitet zu sein, ja, regelrecht wie unbewusst bei Menschen vorzuliegen; antisemitische Ressentiments kann man regelmäßig, oft auch im Nebenbei, bei Menschen feststellen.
Gleichzeitig hat es den Anschein, als würde der Vorwurf des Antisemitismus bisweilen von politischer und aktivistischer Seite dazu verwendet, ja, missbraucht werden, Systemkritik oder überhaupt Gesellschaftskritik immer wieder auszuschalten. Ich hörte etwa schon öfter, dass der Terminus „Big Pharma“ ein antisemitischer Code sei, und die Kritik an Bill Gates sei angeblich auch antisemitisch motiviert. Dabei ist meines Wissens nach Gates gar kein Jude. Der Gegenseite Antisemitismus zu unterstellen, um Kritik zu unterbinden; macht man es sich da nicht zu einfach?
Ein anderes Beispiel: Die (selbsternannt) feministische Aktivistin Sibel Schick kritisierte die „Emma“ und Alice Schwarzer jüngst als strukturell antisemitisch, weil sie in einem Artikel von der „Trans-Lobby“ oder der „Zuhälter-Lobby“ sprachen.3 Auch hier hat es wieder den Anschein, als würde der Antisemitismus für alles herhalten müssen, was einem nicht in den Kram passt. Am Ende wirkt das doch wie eine arge Verharmlosung des eigentlichen Phänomens, oder? Hat das nicht auch mit dem Ansatz der postkolonialen Theorien zu tun, die nicht selten den Holocaust mit dem Kolonialismus vergleichen?
CH: Da sprechen Sie einen sehr wichtigen Punkt an, der die vorige Frage ja ergänzt. Ich denke auch, dass sehr viele Leute, die sich bislang in ihrem Leben überhaupt nicht mit der Gefahr des Antisemitismus beschäftigt haben, auf einmal überall Antisemitismus drauf pappen, was irgendwie nicht in Ordnung sei. Das Beispiel des Postkolonialismus ist sehr richtig, darauf gehe ich in meinem Buch näher ein. Die Leugnung des Nie-Dagewesenen von Auschwitz und der Vergasung von Millionen Juden, der Vernichtung von sechs Millionen Juden durch Gas, Schusswaffen, Totschlagen und Folter ist eine schockierende Mode. Der Kolonialismus hat seine eigene schreckliche Geschichte, aber er ist nicht einmal im Ansatz zu vergleichen mit der industriellen Vernichtung eines ganzen Volkes. Die Intention, ein ganzes Volk zu ermorden, fehlt beim Kolonialismus und Imperialismus vollkommen. Dass es eine Lobby für benachteiligte Menschen und Gruppen wie Transmenschen gibt, ist richtig, aber was soll daran schlimm sein, das zu erwähnen? Nicht jede Kritik am Lobbyismus ist antisemitisch, es kann antisemitisch werden, wenn George Soros angedichtet wird, die europäische Kultur via Immigration zu unterwandern.
JDZ: Wie trifft man nun zusammenfassend die Unterscheidung zwischen seriöser Antisemitismusforschung und aktivistischer Verschlagwortung von Abweichlern des Mainstreams? Wie kann man das Ihrer Meinung nach auseinanderhalten?
CH: Eine seriöse Antisemitismusforschung befasst sich kritisch mit Antisemitismus. Eine modische Form der Antisemitismusforschung labelt alles als irgendwie antisemitisch, das einem nicht in den Kram passt, die Ablehnung einer Gentherapie (so ein Vertreter der Firma Bayer 2021 über die Corona-„Impfung“), die Kritik an der Apartheid der 2G-Regelung oder die Ablehnung der irrationalen Maske, deren Wirkungslosigkeit jeder sehen kann und die schon im August 2020 in der Zeitschrift „Krankenhaushygiene up2date“ als wirkungslos analysiert worden war. Sehr viele Antisemitismusforscher*innen diffamieren nahezu jegliche Kritik an der Coronapolitik und faseln von „Coronaleugnern“, obwohl nur ein sehr kleiner Teil der Kritiker*innen das Virus tatsächlich leugnet. Manche reden gar von einer „Coronaleugner-Bewegung“. Fast immer geht der Vorwurf des „Coronaleugners“ ohne jede empirische Evidenz oder nur mit obskuren Beispielen vonstatten, die dann unglaublich unwissenschaftlich verallgemeinert werden.
JDZ: Sie sprechen in Ihrem Buch an verschiedenen Stellen bzgl. der Corona-Maßnahmen von Impfapartheid. Manche würden Ihnen hier Verharmlosung des südafrikanischen Apartheid-Regimes unterstellen. Mit Blick auf den Antisemitismus und den Holocaust ist ja die Frage der Verharmlosung auch immer wieder großes Thema. Während Corona haben Demonstrierende oder Kritiker immer wieder auf Parallelen der Ausgrenzung mit den sprachlichen und räumlichen Ausgrenzungspraktiken der Nationalsozialisten hingewiesen, Ähnlichkeiten erkannt.
Wie beurteilen Sie dies?
CH: Die Apartheid in Südafrika war mörderisch und sperrte viele Dissident*innen in Knäste ein etc. Das war bei 2G etc. nicht der Fall. Aber: Die Ähnlichkeiten von NS-Täterseite sind nicht völlig von der Hand zu weisen, aber von Opferseite natürlich völlig grotesk. Es sollten ja keine Menschen vernichtet werden. Aber die politische Kultur des Autoritarismus ist auch heute wieder en vogue und das ist zutiefst schockierend. Ich beziehe mich dabei auf den Historiker Peter Viereck, der sich in seiner Doktorarbeit Anfang der 1940er Jahre in Harvard auf die damals bekannteste und einflussreichste amerikanische Journalistin Dorothy Thompson bezog, die meinte, die meisten Menschen würden vor dem Gefängnis fliehen, aber die Deutschen würden sich im Zweifel lieber selbst einweisen. Und dieses Sich-Selbst-Einweisen war ja ein Kern der Coronapolitik. Das sind natürlich keine Analogien zur Ausgrenzung der Juden. Aber die Mentalität oder politische Kultur der Deutschen und Österreicher hat Traditionslinien, die weit vor 1933 beginnen und bis heute unschwer decodiert werden können.
JDZ: Lieber Herr Heni, danke für dieses Interview, das wir demnächst fortsetzen werden!
Der zweite Teil des Interviews soll sich mit der Frage des Antisemitismus in der Ukraine sowie mit Plastikwörtern, Sprachformen des Krieges und der Militarisierung auseinandersetzen.
- Anm. J.D.Zimmermann: Die sogenannte Damaskusaffäre von 1840 war eine Ritualmordanklage gegenüber Juden in Damaskus, Syrien, die die Inhaftierung von Juden und die Bedrängung jüdischer Gemeinden im gesamten Nahen Osten zur Folge hatte. [↩]
- Vgl. https://www.profil.at/oesterreich/ziemlich-beste-freunde-kanzler-kurz-auf-besuch-bei-netanjahu/401211694 , abgerufen am 27.07.2023.[↩]
- Vgl. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173830.ruby-rebelde-feminist-innen-koennen-strukturell-antisemitisch-sein.html , abgerufen am 05.08.2023.[↩]
Über den Autor
Jan David Zimmermann ist Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftsforscher. Seine Essays und Beiträge erscheinen unter anderem in der Berliner Zeitung, Cicero, oder dem Stichpunkt Magazin.