Die verwissenschaftlichte Gesellschaft
Wissenschaft hat in den letzten Jahrhunderten immer stärkeren Einzug in Leben und Alltag des Menschen gefunden. Aber nicht nur durch Erfindungen wie die Glühbirne oder die Eisenbahn, nicht nur aufgrund von Waffentechnik, Ingenieurwesen, Straßenverkehr, Eisenbahnnetze oder durch die maschinelle Erzeugung von Produkten, wie sie seit der industriellen Revolution die modernen Gesellschaften massiv verändert haben.
Auch als Ideologie, Leit- und Weltbild hat sich „die“ Wissenschaft als Glaubens-, ja, vielfach als Heilslehre durchgesetzt, an der sich Menschen orientieren. In der ausgeprägtesten Form des Wissenschaftsglaubens kann man dabei von Szientismus1 sprechen, das wäre die quasireligiöse Überhöhung der Wissenschaft und die Krönung von Wissenschaftlern zu priesterähnlichen Figuren.
Aber auch wenn es nicht um diese Extremposition geht, so muss man ohne Frage eine Entwicklung feststellen, die von dem Soziologen Peter Weingart in den 1980er Jahren als „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ bezeichnet wurde. Weingart meinte mit Verwissenschaftlichung eher allgemein den Einzug von Reflexion und Reflexivität in die verschiedensten sozialen Teilsysteme der Gesellschaft; letztlich das Über-etwas-Nachdenken als Prinzip der Wissenschaftlichkeit.2 Diese Zunahme an Reflexivität spiegelt sich dabei insbesondere im öffentlichen Diskurs (also in den Medien) wider. Es gibt seit einigen Jahrzehnten eine große Anzahl an Wissenschaftsreihen im Rundfunk und im Fernsehen, mittlerweile existieren wissenschaftliche Podcasts zu den verschiedensten Themen und wissenschaftlich gebildete Akteure vermitteln als Youtuber in Infotainement-Formaten wissenschaftliche Inhalte.
Es gibt sogenannte Science-Slams, wo Wissenschaftler ihre Spezialgebiete kurz und knapp erklären müssen, oder Citizen-Science-Projekte, die versuchen sich an Laien-Forscher zu richten und sie am Forschungsprozess teilhaben zu lassen. Kurzum: Man merkt, dass Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit sehr hochgehalten und hochgelobt werden. Wissenschaftskritische Beiträge hingegen gehören eher zur Seltenheit. Man scheint die Verwissenschaftlichung ausnahmslos als Fortschritt zu empfinden und die Ausbeutung der Natur von ihr zu entkoppeln; dass wissenschaftliche Errungenschaften und Technologie erst den Raubbau an der Erde ermöglichen, kommt vielen nicht in den Sinn.
Vielen Menschen wird dafür, was durchaus positiv ist, durch das Internet der Zugang zu wissenschaftlichen Studien (die oftmals online publiziert werden) und Ergebnissen, Diskussionen etc. ermöglicht, sei es nun bei medizinischen Themen, bei Thematiken rund um Schwangerschaft und Reproduktionsmedizin, Alkohol, Drogen, bei psychologischen oder ökologischen Fragestellungen usw. Wer in Debatten seine Position untermauern möchte, bezieht sich gerne auch auf Dinge, die „wissenschaftlich erwiesen“ sind und wer seinen Satz mit „Fakt ist“ einleitet, will sich nicht selten als wissenschaftlich gebildet, rational und seriös inszenieren. Wissenschaft ist überall.
Wissenschaft und Demokratie
Nun ist es in erster Linie nachvollziehbar, dass man meinen könnte, dass mehr Wissenschaft und mehr Wissenschaftlichkeit auch zu einer rationaleren und damit besseren Gesellschaft führen, schließlich ist die (mathematische) Logik sozusagen der Grundstock vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Leider ist die Auffassung, dass mehr Rationalität und mehr Wissenschaft damit auch automatisch mehr Demokratie bedeuten, ein Trugschluss. Dies zeigt der Blick in die Geschichte ebenso wie in die Gegenwart: China etwa betreibt in vielen wissenschaftlichen Feldern sogenannte Spitzenforschung. Eine Demokratie ist China jedoch sicher nicht. Ein anderes Beispiel wäre die Krebsforschung im Nationalsozialismus. Sie zeigte in den 1930er Jahren als weltweit erste in Studien den Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs auf.3 Möglicherweise war es auch dem nationalsozialistischen Körperbild geschuldet, dass man sich derart intensiv dem Gesundheitsthema widmete, die Krebsforschung im Nationalsozialismus aber nur auf diesen Aspekt zu reduzieren wäre eine arge Verkürzung, die die Meriten dieser Forschung schmälert.
Andererseits gab es Forschungszweige wie die Rassenbiologie oder Rassenhygiene (Eugenik), die in weiten Teilen tatsächlich rein ideologische Pseudowissenschaften darstellten.4
In autoritären oder totalitären Regimen können daher ebenso wie in Demokratien Verbrechen, gefährliche Ideologien, tatsächliche Pseudowissenschaft und hochwertige Forschung parallel existieren, was es umso schwieriger macht, das Wissenschaftliche vom Politischen einfach zu trennen. Auch können Technisierungswellen den Weg für mörderische Infrastrukturen ebnen, wie etwa die Historiker Susanne Heim und Götz Aly in ihrem Werk „Vordenker der Vernichtung“ (1991) beschrieben haben. Sie skizzierten darin, wie die deutsche Planungselite aus wissenschaftlichen Technokraten und Ingenieuren in den 1930er Jahren durch Modernisierungsbestrebungen letztlich Umsiedlungen, Deportationen, ja, den Holocaust vorbereiteten und technisch möglich machten. Sie schreiben:
„Unsere Analyse zeigt, dass dabei Willkür und Selbstlauf eine untergeordnete Rolle spielten, dass im Gegenteil die Spitzen des damaligen Staates wissenschaftliche Politikberatung in hohem Maße förderten und deren Ergebnisse als wichtige Grundlage auch für die Entscheidungen über den Mord an Millionen Menschen nutzten.“5
Zyklon B, das ausgeklügelte Zug-System, die Organisation von Deportationen, der Militär-und Rüstungsapparat, der der Vernichtung zuarbeitete; alles davon ist letztlich mithilfe von Wissenschaft und Bürokratie geschehen. Ohne Wissenschaft wäre der Holocaust so nicht möglich gewesen.
Was man dabei aber bedenken muss ist, dass die Wissenschaft der 1930er Jahre nicht als nationalsozialistische vom Himmel gefallen ist, sondern dass die Protagonisten mitunter Jahrzehnte davor wissenschaftlich aktiv waren. Deswegen kann man erstens davon ausgehen, dass die problematischen Inhalte eine längere Kontinuität besaßen, als man das annehmen würde und dass zweitens die Demokratie keine notwendige Voraussetzung für die Durchführung von Wissenschaft ist. Sonst hätten im Fall einer Diktatur ja wohl die meisten Protagonisten ihre Lehrstühle niedergelegt.
Diese Frage nach dem Demokratischen stellt sich jedoch nicht nur bei speziellen Staatsformen unter denen Wissenschaftler tätig sind: Auch die Wissenschaft und das soziale Gefüge der Wissenschaftler selbst sind in sich nicht automatisch demokratisch. Und dasselbe trifft eben auch auf Logik und Wissenschaftlichkeit zu. Wissenschaftliche Inhalte oder Praktiken können in sich schlüssig und logisch, dabei jedoch völlig brutal, undemokratisch, ja, verbrecherisch sein. Sie können zu guten, sinnvollen, richtigen Ergebnissen führen, dabei jedoch in schrecklichen Kontexten unter grauenvollen Umständen entstanden sein. Politisierte Pseudowissenschaft kann neben Spitzenforschung ebenso existieren wie eine solche Spitzenforschung dennoch fragwürdige Ideologeme in sich bergen kann.
Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass Wissenschaft automatisch antidemokratisch ist. Doch Demokratie ist eben kein notwendiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit. „Logik“ schützt uns nicht vor Gewalt und Menschenverachtung, besonders dann nicht, wenn es sich um eine „innere Logik“ eines bestimmten Denksystems handelt. Und letztlich agieren wir alle aus einem bestimmten Denksystem heraus. Eine völlig ideologiefreie Wissenschaft gibt es daher so nicht. Und auch ethisch fragwürdige Forschung lässt sich leicht logisch begründen. Aus der Logik der NS-Medizin heraus waren etwa Menschenversuche mit „lebensunwertem Leben“ völlig „logisch“, dabei aber zutiefst unethisch und verbrecherisch.
Auch weniger extreme Beispiele wie etwa jenes der Tierversuche zur Erprobung von Medikamenten gehören in diesen Bereich. Denn natürlich erscheint es „logisch“ neue Medikamente nicht sofort am Menschen zu testen. Ob deswegen Tierleid in Kauf genommen werden darf, ist jedoch zu diskutieren und wurde in den letzten Jahrzehnten insbesondere vonseiten tierethischer Experten vielfach thematisiert.
Fehlende Selbstbeobachtung?
Die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft hat jedenfalls zu der Vorstellung geführt, Wissenschaft würde dabei helfen, Irrationalismen und religiösen Dogmatismus generell und grundsätzlich auszuschalten; ganz im Sinne der Aufklärung, ganz in der Art wie wir davon sprechen, wenn wir sagen, eine Gesellschaft sei „aufgeklärt“. In einem Bereich scheitert jedoch der Anspruch der Aufklärung meist: Nämlich, wenn es um den Dogmatismus (in) der Wissenschaft selbst geht. Mit diesem Dogmatismus meine ich eben nicht nur jene Selbstüberhöhung der wissenschaftlichen Disziplinen auf Universitäten und Akademien, sondern ich meine den zuvor angesprochenen Szientismus als grundsätzliche, gesellschaftliche Auffassung von „der“ Wissenschaft als autoritäre Instanz wie sie in der Bevölkerung, in den Medien, in der Gesellschaft immer wieder konstruiert wird. Wir denken zwar als verwissenschaftlichte Gesellschaft über alles Mögliche nach, diese Reflexion findet „bei sich selbst“ als verwissenschaftlichte Gesellschaft und bei der Wissenschaft aber nicht statt. Demgemäß gibt es also keine kritische Selbstbeobachtung der verwissenschaftlichten Gesellschaft mit ihren Tücken, Fehlern und Mängeln. Die verwissenschaftlichte Gesellschaft möchte sich zwar in erster Linie von Irrationalismen abgrenzen, vergisst dabei aber, dass die religiöse Überhöhung der Wissenschaft selbst ein Irrationalismus ist. Damit einher geht auch die immer größere Schwierigkeit, dass wir in dieser Wissensgesellschaft eigentlich kaum fundierte Technik- und Wissenschaftskritik betreiben. Weil man sich damit nämlich selbst delegitimieren würde. Im szientistischen Weltbild – und ein solches wurde insbesondere in den letzten Jahren vielfach forciert – kann aus der inneren Logik heraus für Wissenschaftskritik und Skepsis am ungebremsten Fortschrittsglauben kein Platz sein. Im Gegenteil: Diesem Bild gemäß kann einzig die Wissenschaft Antworten auf die Probleme und Fragen der Zeit liefern, ebenso wie nur die Wissenschaft unseren Wohlstand sichern kann. Dass überakademisierte und verwissenschaftlichte Gesellschaften nicht unbedingt Krisen besser lösen können, haben wir in den letzten Jahren gesehen und das sollte einem sehr zu denken geben. „Fortschrittliche“ Gesellschaften bauen weder Gewalt ab, noch meistern sie Problemlagen unbedingt besser als vor Jahrzehnten. Dies hat sehr viele Gründe, die jedoch an einem anderen Zeitpunkt besprochen werden müssen.
Eine zweite Aufklärung
Wenn wir die Wissenschaft aber mit dem Demokratischen tatsächlich in Verbindung bringen wollen, so braucht die verwissenschaftlichte Gesellschaft jedenfalls eine zweite Aufklärung, die sich schließlich dem Dogmatismus der Wissenschaft selbst annimmt.6 Die Instrumentarien der Wissenschaftsforschung und des kritischen Journalismus sind da, sie müssen nur konsequent, selbstreflexiv und ohne Scheu angewendet werden; es ist die historisch-politische Kontextualisierung, die Analyse der sozialen Gruppe der Wissenschaftler und die lückenlose Thematisierung der Verbindung von Wissenschaft, Industrie und Politik. Mittels dieser Instrumentarien muss man die Wissenschaft von eben jenem Thron stoßen, von dem sie einst die abrahamitischen Religionen gestoßen hat. Eine solche zweite Aufklärung würde aber schließlich auch diesen Thron ganz entfernen und stattdessen die Wissenschaft durch Wissenschaftsskepsis (die keine Feindschaft ist!) entmystifizieren. Die Verzauberung der Welt sollten wir hingegen eher der Kunst überlassen.
- Zu einer Definition des Begriffes und einer Übersicht diverser Quellen dazu vgl. Peter Schötter: „Szientismus. Zur Geschichte eines schwierigen Begriffs“, in: NTM, Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 20, 4, S. 245-269 (2012).[↩]
- Vgl. Peter Weingart: „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Gesellschaft“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg 12, Heft 3, S.225-241 (Juli 1983). Weingart geht in diesem Text auch auf die der Verwissenschaftlichung immanente Problematik der Politisierung von Wissenschaft ein, v.a. S.233 ff.[↩]
- Vgl. Robert N. Proctor: The Nazi War on Cancer. Princeton University Press 1999.[↩]
- Vgl. z.B. Christian Greulen: „Der Rassebegriff. Ein kurzer Abriss seiner Geschichte“, in: Foroutan et al.(Hgg): Das Phantom „Rasse“. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. Böhlau-Verlag 2018, S.23-32.[↩]
- Götz Aly, Susanne Heim:Vordenker der Vernichtung. Ausschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. S. Fischer Verlag 2013, S.11.[↩]
- Ich beziehe mich beim Begriff der zweiten Aufklärungen auf die Ausführungen des Soziolinguisten Manfred Glauninger, vgl. https://www.jandavidzimmermann.com/post/die-wissenschaft-ist-eine-religion-ohne-erl%C3%B6sung , abgerufen am 03.06.2023.[↩]
Über den Autor
Jan David Zimmermann ist Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftsforscher. Seine Essays und Beiträge erscheinen unter anderem in der Berliner Zeitung, Cicero, oder dem Stichpunkt Magazin.