Wir stecken mitten in einem Geschlechterkampf. Der einst natürliche, vertraute Tanz zwischen Männern und Frauen hat nicht nur Rhythmusprobleme, er ist gänzlich ins Stocken geraten. Unter dem Keil, der zwischen die Geschlechter geschlagen wurde, leiden nicht nur die Männer. Hat es sich ausgetanzt?
Essay von Aron Morhoff
Männer brechen häufiger die Schule ab, landen weniger auf Universitäten, sind öfter drogenabhängig. In deutschen Gefängnissen sitzen zu 95 Prozent Männer. Selbstmord ist die Haupttodesursache für Männer unter 45 Jahren. Manche Sätze muss man zwei Mal schreiben: Die Haupttodesursache für Männer unter 45 ist Selbstmord. Wo bleibt der Aufschrei? Jemand, der darüber spricht, ist Richard Reeves, er ist der Präsident des American Institute for Boys and Men. Er hat einen breiten, interdisziplinären Hintergrund und widmet sich Themen wie Geschlechter- oder Einkommensgerechtigkeit. Sein Buch “Von Jungen und Männern”, das 2022 erschien, landete beim Economist und dem New Yorker in den Jahresbestlisten. Der Untertitel lautet: “Warum der moderne Mann Probleme hat, warum das wichtig ist und was man dagegen tun kann.”
Richard Reeves spürt, wie verunsichert viele Männer heute sind, doch er füttert ihr Bedürfnis nach einem Anker und nach einfachen Antworten nicht mit frauenfeindlichem Gift, wie es viele Protagonisten der Mesosphäre leider tun. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Kickboxer Andrew Tate, der Dutzende Verfahren wegen Menschenhandel, der Bildung einer kriminellen Vereinigung oder Geldwäsche gegen sich laufen hat. Richard Reeves dagegen denkt komplex und weitsichtig und er spricht versöhnlich. Der 55-jährige Brite bietet keine Lösungen an, er beschreibt: In den letzten Jahrzehnten haben wir die größte ökonomische Befreiung in der Menschheitsgeschichte erlebt. Die Heirat wurde für Frauen von einem Zwang zu einer freien Entscheidung. Als Frauen noch davon abhängig waren, von Männern versorgt zu werden, gab es eine klare Rollenverteilung. Männer kümmerten sich materiell um ihre Frauen, Frauen kümmerten sich emotional um ihre Männer.

Frauen haben einen klaren Auftrag, sagt Reeves: sei taff und unabhängig. Selbstbewusst, stark souverän. Für Männer dagegen gäbe es heute eine Menge “Dont’s” aber keine Dos”.
Die Emanzipation der Frauen aus der männlichen Abhängigkeit wurde allerdings nur einseitig verkraftet. Frauen stehen jetzt auf eigenen Füßen. Das ist ihr neues Selbstverständnis. Reeves betont, dass diese Emanzipation heute von Frauen und Männern gleichermaßen begrüßt wird. Reeves plädiert nicht dafür, die Zeit zurückzudrehen. Doch man muss zur Kenntnis nehmen, dass die ökonomische Gleichstellung der Frau eine existenzielle Ungleichheit hervorgebracht hat. Frauen haben einen klaren Auftrag, sagt Reeves: sei taff und unabhängig. Selbstbewusst, stark, souverän. Für Männer dagegen gäbe es heute eine Menge „Don’ts“ aber keine „Dos“.
Männer ohne Aufgaben
Männern fehlt es also an positiven Rollenmodellen, an Aufgaben. Der Versorger fällt weg. Um wen sich also sorgen? Die Antworten der großen politischen Lager auf diese Krise sind für Männer unzufriedenstellend. Das Angebot des Konservatismus und der Rechten lautet: „Du wurdest verarscht, Frauen ging es besser, als sie abhängige Hausfrauen waren.“
Hier herrscht ein negatives Frauenbild. Die Antwort des Progressivismus und Feminismus lautet: „Männlichkeit an sich ist problematisch. Sei ein fragiler, kastrierter Mann“. Viele der klassisch männlichen Tugenden werden mit dem Schlagwort „Toxische Männlichkeit“ versehen, ein Begriff, so stellt Reeves fest, der selbst toxisch ist. Ein gesundes Selbstverständnis kann niemals durch die Negierung, Verleugnung und Abwertung der eigenen Natur heranreifen. Wir behandeln Männer wie kaputte Frauen, schreibt Reeves. Doch Männer sind keine „schlechteren Frauen“. Hier herrscht also ein negatives Männerbild. Was tun?
Während den Frauen in unserer Kultur Dominanz und Härte beigebracht wird, weil sie sich als selbstermächtigte Wesen (Empowerment), die keine Männer mehr brauchen, jetzt ja durchsetzen müssten, werden die gleichen Attribute bei Männern als problematisch definiert. Frauen werden aufgestachelt, Männer domestiziert. Das gleicht die Geschlechter langfristig aneinander an. Frauen verhalten und kleiden sich zunehmend maskuliner, bei Männern ist es umgekehrt. Das kaschiert die wunderbaren Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die wohl im Sinne des Erfinders waren und anziehend wirkten. „Men and women are differently beautiful, but beautifully different“, habe ich mir mal notiert. Ist das jetzt rückständig?
Zurück in die 50er? Blödsinn!
Ich empfinde das als wahr, nicht als verhärtet, spießig oder stockkonservativ und Richard Reeves gibt mir Recht. Er geht in diesem Zusammenhang auf den Begriff der Überlappenden Verteilung ein und springt mir zur Seite. Es bedeutet, dass man in zwei Gruppen in der Regel klare Tendenzen feststellen kann. Männer sind zum Beispiel größer als Frauen. Überlappende Verteilung heißt, dass nicht jeder Mann größer ist als jede Frau, sondern die meisten Männer größer als die meisten Frauen. Das Konzept hilft, wenn man über gesellschaftliche Gruppen spricht und nicht missverstanden werden will. Eine überlappende Verteilung, die man beim Thema Geschlechter beobachten kann, ist, dass schon Jungs lieber raufen, zündeln, Grenzen überschreiten. Sie wollen im Flur grölen und Konflikte auch mal ohne Gruppensitzung und Stuhlkreis lösen. Dass Jungs in einem Schulsystem, wo sie auf ruhiges Sitzen und Zuhören konditioniert werden, folglich leiden, sollte einleuchten.
Und die Frauen? Auch die merken, dass was nicht stimmt. Das untermauern die Trends angesagter sozialer Netzwerke wie TikTok: Junge Damen erzählen davon, dass sie sich dafür schämen, eigentlich ganz gerne als Hausfrauen zu arbeiten. Sie würden es lieben zu dekorieren, zu backen, mit Kindern zu basteln. Allerdings hätten sie das Gefühl, das sei kaum mehr sagbar. „Tradwives – wie problematisch ist der Hausfrauentrend?“ schalt der Bayerische Rundfunk die sinnsuchenden Frauen umgehend. Emanzipation, aber bitte nur in eine Richtung? Es beschleicht einen das Gefühl, dass Frauen plötzlich gar nicht mehr frei und eigenverantwortlich handeln sollen, wenn sie sich für die „falschen Lebensentwürfe“ entscheiden.

Der Trend zu “Ich bin irgendwie alles und nichts”- Genderidentitäten ist noch gar nicht berücksichtigt, aber Symptom der gleichen Sinnkrise.
Die Verunsicherung ist also beidseitig da. Dabei sind brisante Tendenzen wie die geschlechtsangleichende Medikamentierung bei Minderjährigen oder der Trend zu „ich bin irgendwie alles und nichts“-Genderidentitäten noch gar nicht berücksichtigt, aber Symptom der gleichen Sinnkrise.
Das vergiftete Miteinander
Ich selbst bin 32 Jahre alt und ich gebe zu, ich habe unter den gesellschaftlichen Ansprüchen, die an Männer gestellt werden, zu kämpfen. Viele junge Männer resignieren inzwischen komplett, versinken in Videospiel-Eskapismus oder werden von der MGTOW-Bewegung aufgefangen (Men Going Their Own Way), die Frauen als Ausgeburt des Bösen sehen und vor lauter Verunsicherung durch weibliche Zurückweisung selbst in Extreme abgleiten. Wahr ist aber, dass der modern ausgelegte Feminismus der dritten Welle nicht auf Befreiung, Emanzipation und Selbstermächtigung beruht, sondern auf Selbstüberhöhung und die Abwertung des Gegenübers. Spätestens seit der „Me Too“-Debatte ab 2017 ist daraus eine männerfeindliche Bewegung geworden, die unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes gegen Benachteiligung selbst in rückständigen Denkmustern verhaftet ist, entspanntes Flirten und harmlose Bewegungen (Knie anfassen) krankhaft sexualisiert und das Miteinander von Männern und Frauen vergiftet.
Sind die Fronten wirklich so verhärtet? Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass sich Frauen eigentlich (überlappende Verteilung!) maskuline Männer wünschen, die klassisch männliche Eigenschaften mitbringen: Führung übernehmen, Verantwortung tragen, versorgen. Ziele mit Ehrgeiz verfolgen. Ein Anpacker eben. Umgekehrt lässt sich für Männer das gleiche sagen, die sich in Frauen oft nach Zärtlichkeit, Wärme und Gutherzigkeit sehnen. Sie sehnen sich nach dem anderen, dem ergänzenden Pol.

Ich denke, dass Probleme ihre Lösungen immer auch mit sich bringen. Ich erlebe eine unheimliche Bereitschaft junger Frauen und Männer, sich gegenseitig wieder besser zu verstehen. Sich wirklich zu stützen, zu ergänzen.
Lösung kommt von „etwas löst sich“
Was sagt Richard Reeves? Mit Lösungen ist er vorsichtig. Er plädiert in „Von Jungen und Männern“ dafür, dass das Thema aus der Versenkung geholt und endlich diskutiert wird. Dass der Feminismus Männern existenziell zu schaffen macht, solle endlich im Bildungssystem, bei Ärzten und Psychologen, in Medien und der Politik berücksichtigt werden. Gleichzeitig anerkennt er den gesellschaftlichen Fortschritt, den die ökonomische Befreiung der Frau mit sich brachte. Wirklich komplex und holistisch denken, gibt Reeves zu denken, heißt aber anzuerkennen: „Jede positive Entwicklung hat auch unbeabsichtigte negative Folgen“. Und die erleben wir gerade.
Ich denke, dass Probleme ihre Lösungen immer auch mit sich bringen. Ich erlebe eine unheimliche Bereitschaft junger Frauen und Männer, sich gegenseitig wieder besser zu verstehen. Sich wirklich zu stützen, zu ergänzen. Viele von ihnen sind Scheidungskinder und haben Konzepte wie die Ehe als etwas Destruktives erlebt. Sie möchten es besser machen. Es wird weniger geheiratet, mehr hinterfragt. Es werden mehr psychotherapeutische Angebote angenommen als früher. In urbanen Gegenden kommt es schon lange zu Begegnungsräumen wie Kreiskultur-Zeremonien, Tantra-Workshops und – man staune – Aussöhnungsseminaren.
Ich sehe in dieser Hinwendung zum Verstehen und Wertschätzen des jeweils anderen Geschlechts und seiner heiligen Energie eine echte Chance. Ein überfälliges System wird nie bekämpft, es wird durch ein Besseres ersetzt. Wir dürfen die alten Pfade der religiös geprägten, starren Beziehung- und Rollenmuster verlassen, ohne in materialistische Fallen wie Hardcore-Feminismus oder Misogynie zu tappen. Den neuen Weg weist vielleicht eine Leipziger Begegnungsgruppe, deren Text ich zum Abschluss zitieren will:
„In tiefer Verbundenheit zwischen dem Männlichen und Weiblichen ruht eine unendliche Kraft. Eine Kraft, die uns daran erinnert, wer wir wirklich sind – jenseits von Rollen und Erwartungen. Fühlst du den Ruf, dich wieder mit dieser Quelle der Liebe und des Respekts zu verbinden? Spürst du den Schmerz, der über Generationen hinweg zwischen Mann und Frau entstanden ist, und sehnst dich danach, diese alten Wunden zu heilen? Mut beginnt mit dem Zeigen unserer Verwundbarkeit. Uns selbst zu zeigen, wie wir wirklich sind – das ist die Grundlage jeder echten Verbindung. Dieses Seminar ist eine Einladung an dich, die tiefsitzenden Muster, die uns trennen, anzuschauen und in Wandlung zu bringen. Der Schmerz dieser Trennung zwischen Mann und Frau, den so viele von uns spüren, ist nicht allein unser eigener.
Es ist die Geschichte vieler Generationen, die uns noch davon trennt, ehrliche Intimität und Liebe zu uns selbst und anderen zu leben. Wir legen unsere Masken ab, begegnen einander in Offenheit und Verletzlichkeit, sodass in und zwischen uns Heilung geschehen kann. In dieser ehrlichen Begegnung, in einem geschützten Raum, liegt wahre Schönheit und eine ganz neue Verbindung kann entstehen, jenseits aller Verletzungen. Lasst uns miteinander den Weg bereiten für einen erfüllten und heilsamen Umgang zwischen uns Männern und Frauen.“

Nun muss ich feststellen, dass ich immer noch wütend bin und mich vieles bewegt. Doch ich habe tatsächlich einen Mund, kann die Dinge verbalisieren, mitteilen und glaube, gehört zu werden.
Über den Autor

Aron Morhoff
Aron Morhoff studierte Medienethik. Seine Schwerpunkte sind die gesellschaftliche Disruption, Fragmentierung und Entfremdung durch mediale und technologische Entwicklungen. Abschlussarbeiten u.a. zur Dynamik politischer Debatten in sozialen Netzwerken und der medialen Rezeption der Ausschreitungen in Chemnitz. Als Kolumnist, Autor und Podcaster aktuell u.a. für Manova und Michael Meyen. Seine Latenight-Liveshow heißt "Addictive Progamming".